Busdorfkirche

Die Entfaltung der Christologie

Von Georg Hintzen

Es gehört zu den Grundlehren des christlichen Glaubens, dass Jesus Christus wahrer Gott und wahrer Mensch zugleich ist. Das erste Konzil von Nicäa hat 235 seine Wesensgleichheit mit dem Vater erklärt und das Glaubensbekenntnis, welches das erste Konzil von Konstantinopel 381 formuliert hat, beten wir als Credo in der heiligen Messe: „Gott von Gott, Licht vom Lichte, wahrer Gott vom wahren Gott, gezeugt, nicht geschaffen, eines Wesens mit dem Vater.“ Doch was für uns heute selbstverständlich ist, war nicht von Anfang an so selbstverständlich. Fast 500 Jahre hat die Kirche gebraucht, bis sie sich zu der klaren Erkenntnis durchgerungen hat, dass Jesus Christus wahrer Gott und wahrer Mensch zugleich ist. – Werfen wir einen Blick auf diese Entwicklung!

1. Was haben die Jünger Jesu, was haben die frühen Christengemeinden von Jesus geglaubt?

Diese Frage ist gar nicht so leicht zu beantworten. Unsere Hauptquellen, die vier Evangelien, sind ja keine Geschichtswerke im heutigen Sinne; sie wollen nicht, um mit Ranke zu sprechen, möglichst genau schildern, „wie es gewesen ist“. Sie wollen vielmehr den Glauben an Jesus, den Christus, bezeugen und wecken. Die Evangelien sind nicht von Augenzeugen verfasst; das Markusevangelium ist erst in der zweiten christlichen Generation entstanden, die Evangelien von Lk und Mt sind in der dritten christlichen Generation und das Johannesevangelium ist erst in der vierten christlichen Generation entstanden: Die Evangelisten schildern Leben und Wirken Jesu daher so, wie es dem Glauben der jungen Christengemeinden jeweils entsprach. M.a.W.: sie schildern nicht den historischen Jesus, sondern den Christus des Glaubens.

Für die jungen Christengemeinden ist Jesus nämlich nicht wie für den Historiker nur der umherziehende Wanderprediger, der in Konflikt mit den führenden Kreisen geriet und schließlich am Kreuz endete. Für sie ist er der Auferstandene, der Herr, der Kyrios, der zur Rechten des Vaters thront und der wiederkommen wird, zu richten die Lebenden und die Toten. Aus dieser nachösterlichen Sicht deuten und schildern sie Jesu Leben und Wirken. Das heißt aber nun nicht, dass die Evangelien gar nichts überliefern würden, was wir als historische Fakten im modernen Sinne verstehen dürfen; wir müssen nur genau unterscheiden zwischen dem, was wir aufgrund unserer Kenntnis der Zeit als historische Fakten verifizieren können, und dem, was wir als deren Deutung aus dem Glauben verstehen müssen.

Im NT finden sich – der Häufigkeit nach geordnet – insbesondere folgende Bezeichnungen für Jesus: an erster Stelle Messias (= der Gesalbte, griechisch: Christós), dann Kyrios (= Herr, damals ein Herrschertitel), ferner Menschensohn, Sohn Gottes, Sohn Davids, Gottesknecht, Lehrer, Prophet. – Welche von diesen Bezeichnungen haben die Jünger vor Ostern wohl als zutreffend verstanden? Gewiss, dass Jesus ein Lehrer und Prophet sei, d.h. einer, der den Willen Gottes verkündet. Und auch, dass er der Messias sei.[1] Und wenn sie Jesus als den Messias verstanden haben, haben sie auch die Bezeichnungen Sohn Davids und Sohn Gottes für Jesus akzeptiert: Sohn Davids, weil der Messias aus dem Haus Davids kommen sollte; Sohn Gottes, weil der Messias infolge seiner Sendung in einer besonderen Beziehung zu Gott steht. „Sohn Gottes“ ist im AT und im Judentum zur Zeit Jesu nämlich eine geläufige Bezeichnung für diejenigen, die in einer besonderen Beziehung zu Gott stehen. So hieß vor allem der König Israels „Sohn Gottes“, auch die Frommen, selbst die Engel heißen später so, und darum dürfen wir „Sohn Gottes“ nicht unbesehen im Sinne der späteren Trinitätstheologie als die zweite göttliche Person der Heiligen Dreifaltigkeit verstehen, wenn Jesus im NT „Sohn Gottes“ genannt wird. Die Bezeichnung „Jesus Christus“, die wir heute wie einen Eigennamen empfinden, ist das christliche Urbekenntnis: „Jesus ist der Messias“. – Was aber ist damit gesagt, wenn die Jünger Jesus für den Messias hielten, jenen seit den Propheten erhofften Retter Israels?

Zur Zeit Jesu erwarteten die meisten Juden den Messias als siegreichen und gerechten König aus dem Hause Davids, der Israel von der Fremdherrschaft befreien, alle Feinde besiegen und seinem Reich alle Völker der Welt untertan machen werde. Diese verbreitete und populärste Meinung haben vermutlich zumindest einige der Jünger Jesu geteilt. So sagen z.B. die Emmaus-Jünger enttäuscht: „Wir aber hatten gehofft, dass er es sei, der Israel erlösen werde“ (Lk 24,21).

In der jüdischen Apokalyptik wurde dagegen ein Retter vom Himmel her erwartet, der am Ende der Zeiten über die Bösen Gericht halten und die Gerechten belohnen werde. Dieser Retter wurde teils als Engel, teils als „Menschsohn“, d.h. als Mensch, verstanden. Ob auch diese Auffassung von Jüngern Jesu geteilt wurde, wissen wir nicht. Im NT findet sich der Titel „Menschsohn“ ausschließlich im Munde Jesu. Ob der historische Jesus diesen Titel als Selbstbezeichnung benutzt hat, wissen wir ebenfalls nicht. Viele Exegeten halten das eher für unwahrscheinlich. Für die nachösterliche Theologie ist der Titel „Menschsohn“ allerdings bedeutsam geworden.

Die übrigen Bezeichnungen für Jesus – Kyrios, Menschensohn, Gottesknecht – geben den Glauben der jungen Christengemeinden wieder. Der Titel „Kyrios“ weist auf die Herrscherstellung Christi hin, dem alle Gewalt gegeben ist im Himmel und auf der Erde.[2] Der Titel „Menschensohn“ verweist auf sein Wiederkommen in Herrlichkeit, zu richten die Lebenden und die Toten. Und die Gestalt des Gottesknechtes bot sich als Möglichkeit an, den skandalösen Kreuzestod Jesu als gottgewollt zu verstehen und ihn als Sühnetod für die Vielen zu deuten.

Die nachösterliche Theologie – soweit wir sie aus dem NT kennen – hat Jesus jedenfalls weit über das menschliche Maß erhoben, ja in die Nähe Gottes gestellt, im Johannesevangelium geradezu auf eine Stufe mit Gott. Im Prolog des Evangeliums wird Jesus Christus der „Logos“ genannt: „Im Anfang war der Logos und der Logos war bei Gott und der Logos war Gott“ (Jo 1,1). Und es finden sich Sätze wie diese: „Ich und der Vater sind eins“ (Jo 10,30). „Wer mich gesehen hat, hat den Vater gesehen“ (Jo 14.9). Umso dringlicher stellte sich die Frage, in welchem Verhältnis Jesus zu Jahwe, dem Gott Israels, steht, den die Juden „Vater“ nannten und an den sich der irdische Jesus sogar mit der vertraulichen Anrede „Abba“ = „Papa“ gewandt hat. Und dann die Frage: Wenn Jesus Gott war, wie ist es dann zu verstehen, dass er zugleich auch ein Mensch war?

Jahrhundertelang hat die Kirche über diese Fragen gestritten. Dieser Streit wurde zwar auf der Grundlage des jüdischen Glaubens geführt, aber nachdem das Christentum in der heidnischen Welt Fuß gefasst hatte, vor allem mit den Mitteln der damaligen hellenistischen Philosophie bestritten. Deren Begriffsinstrumentarium muss man kennen, wenn man diese Auseinandersetzungen verstehen will.

2. Jesus: Geschöpf oder Gott gleich?

Es ist das Grunddogma Israels, dass Gott – Jahwe – ein einziger ist, neben dem es keine anderen Götter gibt.[3] Das Christentum ist aus dem Judentum entstanden und die Heilige Schrift, an der sich die jungen Christengemeinden orientierten, war das heute so genannte Alte Testament, die jüdische Bibel in der Version der Septuaginta, der griechischen Übersetzung der jüdischen Bibel. Aus der Schrift und dem Glauben Israels haben die Christen den Monotheismus als Grunddogma übernommen und damit standen sie vor dem Problem, in welchem Verhältnis Jesus, der Christus, zu dem einen Gott stehe, den auch die Christen wie die Juden „Vater“ nannten.

Obwohl im NT die spätere Christologie bereits in nuce grundgelegt ist[4], gab es im 2. und 3. Jh. immer wieder Bestrebungen, die wahre Gottheit Jesu zu leugnen, weil man meinte, nur so könne der Monotheismus gewahrt werden. Diese Bestrebungen nennt man Monarchianismus (= Lehre von der Herrschaft eines Einzigen). So vertrat z.B. Anfang des 2. Jh. Kerinth die Meinung, dass es in Gott nur eine Person gäbe – den Vater – und dass Jesus ein bloßer Mensch sei. Er sei jedoch auf übernatürliche Weise aus dem Heiligen Geist und der Jungfrau Maria geboren und bei der Taufe im Jordan mit besonderer göttlicher Kraft ausgestattet und von Gott an Sohnesstatt angenommen, also sozusagen adoptiert worden. Diese Lehre nennt man daher Adoptianismus.[5] Sie erinnert an das oben erwähnte jüdische Verständnis des Titels „Sohn Gottes“, nach dem derjenige „Sohn Gottes“ heißt, der in einer besonderen Beziehung zu Gott steht.

Andere glaubten hingegen, den Monotheismus sichern zu können, indem sie behaupteten, Gottvater selbst sei in Jesus Mensch geworden und habe gelitten. Diese Lehre nennt man Patripassianismus. Im 3. Jh. bezog Sabellius[6] auch den Heiligen Geist in diese Überlegung ein und lehrte, dass es nur einen einzigen Gott gebe, der sich aber in dreifacher Weise geoffenbart habe: als Schöpfer im Vater, als Erlöser in Jesus Christus und als Heiligmacher im Heiligen Geist. Dieser – auf den ersten Blick faszinierende sog. Modalismus (= Vater, Sohn und Geist sind die Weisen – „modi“ –, in denen sich Gott offenbart) wahrt zwar stringent die Einzigkeit Gottes, den Monotheismus, leugnet aber die Dreifaltigkeit Gottes: Nach ihm ist Gott nicht in sich dreifaltig, er erscheint nur uns aufgrund seines dreifachen Wirkens als dreifaltig.

Hervorzuheben ist die Lehre des Arius,[7] Presbyter in Alexandrien, Ende des 3., Anfang des 4. Jh., weil es zeitweilig schien, als werde sie sich in der Kirche als die rechtgläubige Lehre durchsetzen. Arius griff die johanneische Bezeichnung Jesu als „Logos“ auf, lehrte aber, der Logos existiere nicht von Ewigkeit her, sondern sei ein Geschöpf des Vaters, das vor allen anderen Geschöpfen aus dem Nichts hervorgebracht worden sei. Er sei darum nicht im wahren und eigentlichen Sinn Gott, sondern nur in einem uneigentlichen Sinn, insofern er von Gott an Sohnesstatt angenommen worden sei. Auch Arius vertrat den Adoptianismus.

Demgegenüber erklärte das erste Konzil von Nicäa 325, der Logos ist aus dem Vater gezeugt, nicht von ihm geschaffen, und darum Gott wie der Vater. Hinter dieser Formulierung steht der Gedanke: ein Sohn hat das gleiche Wesen wie der Vater; darum zeugt ein menschlicher Vater einen menschlichen Sohn, ein tierischer Vater einen tierischen usw. Wenn also Gottvater einen Sohn zeugt – und nicht erschafft –, ist dieser Gott wie der Vater. Die uns heute im großen Glaubensbekenntnis so seltsam anmutende Formulierung „gezeugt, nicht geschaffen, eines Wesens mit dem Vater“, richtet sich gegen die Irrlehre des Arius und wird von daher verständlich. – Das „gezeugt“ dürfen wir selbstverständlich nicht im physischen Sinne verstehen. Nach der Lehre der Kirchenväter geht der Sohn aus dem Intellekt des Vaters hervor – so wie der Logos, d.h. der Gedanke und seine Verlautbarung im Wort, aus dem Denken hervorgehen.

Eine vermittelnde Position nahmen die sog. Semiarianer (= Halbarianer) ein. Sie lehrten, dass der Logos dem Vater zwar nicht wesensgleich (griech. = homoousios), aber dennoch wesensähnlich (griech. = homoiousios) sei. Demgegenüber hat aber das Konzil von Nicäa 325 die Wesensgleichheit des Logos mit dem Vater erklärt. Homoiousios – homoousios – da streiten sie um ein Jota, sagten damals die Spötter. – Ab dem Anfang des 4. Jh. stand somit als kirchliche Lehre fest, dass Jesus wahrer Gott ist. Aber war er auch ein wahrer Mensch?

3. Jesus: Gott und Mensch?

Dass Jesus ein wahrer Mensch war, steht doch wohl außer Zweifel – so meinen wir vielleicht; schließlich hat er als Mensch auf Erden gelebt. Für Christen, die aus dem griechischen Kulturkreis kamen, war das jedoch keineswegs so selbstverständlich, sondern eher problematisch. Es gab im griechischen Denken nämlich eine weit verbreitete Strömung, welche die Materie als niedrig, ja als böse verstand. Sollte sich etwa der göttliche Logos mit dieser Materie befleckt haben, indem er einen menschlichen Leib annahm? Aus dieser Sicht wurde die Meinung vertreten, in Jesus habe der Logos nur einen Scheinleib angenommen. So habe seine irdische Existenz sein göttliches Wesen nicht berührt und darum habe er nur zum Schein gelitten. Dadurch konnte zugleich das Ärgernis des Kreuzes entschärft werden. Das Menschsein und die Geschichtlichkeit Jesu werden damit aber aufgegeben. Und so ist es kein Wunder, dass sich dieser sog. Doketismus (von griechisch „dokein“ = „scheinen“) nicht hat durchsetzen können.

Aber wenn Jesus einen menschlichen Leib besaß, besaß er dann auch zwangsläufig eine menschliche Seele? Arius lehrte jedenfalls, der Logos habe keinen menschliche Seele, sondern nur einen menschlichen Leib mit sich vereinigt. Die Äußerungen des Seelenlebens Jesu führte er auf den Logos zurück. Der Logos sei folglich nicht Gott, sondern vertrete gleichsam die Seele des Menschen Jesus. Auf diese Weise glaubte er beweisen zu können, dass der Logos ein Geschöpf sei.

Ähnlich lehrte im 4. Jh. Apollinaris, Bischof von Laodicea, der Logos habe zwar einen menschlichen Leib angenommen, aber keine menschliche Seele, sondern nur eine animalische, d.h. eine tierische. Diese habe nur die leiblichen Funktionen Jesu ausgeübt. Die Funktionen der menschlichen Geistseele habe, wie schon Arius lehrte, der Logos übernommen. Um das zu verstehen, muss man wissen, dass in der griechischen Philosophie die Seele als das Lebensprinzip alles Lebendigen galt, und so hatten die Pflanzen, die Tiere und die Menschen ihre je besondere Seele. Arius und Apollinaris leugneten die wahre Menschheit Jesu, denn ein wahrer Mensch hat nicht nur einen menschlichen Leib, sondern auch eine menschliche Seele. Auch diese Auffassung hat sich nicht durchsetzen können.

Doch das Spekulieren ging weiter. Wenn Jesus ein wahrer Mensch mit Leib und Seele war, muss man dann nicht annehmen, dass er auch eine eigenständige menschliche Person war, wie wir es sind? Und so lehrte Anfang des 5. Jh. Nestorius, Patriarch von Konstantinopel,[8] den zwei Naturen oder Wesenheiten in Jesus entsprechend, d.h. der menschlichen und der göttlichen Natur entsprechend, müsse man auch zwei Personen in Jesus annehmen, eine menschliche und eine göttliche Person, die beide zwar eng miteinander verbunden, aber gleichwohl voneinander verschieden wären – vielleicht in etwa vergleichbar mit zwei Menschen, die in einer engen Verbindung, z.B. in einer Ehe, leben. Und so lehrte er, die menschlichen Prädikate – Geburt, Leiden, Sterben usw. – dürfen nur von dem Menschen Jesus ausgesagt werden; die göttlichen Prädikate – Schöpfung, Allmacht, Ewigkeit usw. – nur von dem göttlichen Logos. Den Menschen Jesus nannte er darum nicht Gott, sondern nur „Gottesträger“, und darum dürfe auch Maria nicht „Gottesgebärerin“ genannt werden, sondern nur „Menschen- oder Christusgebärerin“. Kurz: Nach Nestorius ist der Logos nicht Mensch geworden, er hat nur in einem Menschen Wohnung genommen – ähnlich wie man sagt, Gott wohne in den Gerechten.

Demgegenüber hat das dritte Konzil von Ephesus 431 erklärt: Die göttliche und die menschliche Natur sind in Jesus in der Einheit einer Person verbunden; sowohl die göttlichen als auch die menschlichen Prädikate werden von ein und derselben Person ausgesagt. Darum darf Maria sehr wohl „Gottesgebärerin“ oder, wie wir sagen, „Gottesmutter“ genannt werden. – Diese Aussage des Konzils hatte übrigens einen nicht beabsichtigten Nebeneffekt: Seit dem dritten Konzil von Ephesus erlebte die Marienfrömmigkeit in der Kirche einen gewaltigen Aufschwung, obwohl der Titel „Gottesgebärerin“ gar nicht mariologisch, sondern christologisch gemeint war.

Die Lehre des Nestorius führte leider zur ersten großen Kirchenspaltung in der Alten Kirche. Im Osten des byzantinischen Reiches rezipierten die Kirchen die Entscheidung des dritten Konzils von Ephesus nicht und hielten an der Lehre des Nestorius fest. Einige dieser nestorianischen Kirchen existieren noch heute als kleine Kirchen, während der größte Teil dieser einst sehr weitreichenden Kirchen – sie reichten von Persien über Indien bis nach China – dem Mongolensturm, der islamischen Expansion und weiteren Verfolgungen zum Opfer fiel. Ein Teil der verbliebenen nestorianischen Kirchen schloss sich 1552 Rom an – diese Unierten nennen sich heute „Chaldäisch-katholische Kirche“ – und im 19. Jh. traten viele Nestorianer zur russisch orthodoxen Kirche über. Die Reste der Nestorianer leben heute im Irak, im Iran, in Syrien und in Russland; sie nennen sich „Assyrische Kirche des Ostens“.

Doch auch nach dem Konzil von Ephesus ging das Fragen weiter: Wenn in der einen Person des göttlichen Logos zwei unterschiedliche Naturen miteinander verbunden sind, die göttliche und die menschliche, entsteht dann nicht eine ganz neue Natur oder Wesenheit? Und wie ist diese neue Natur oder Wesenheit dann zu verstehen? Die Vertreter dieser Lehre, die man Monophysiten (= Ein-Naturen-Anhänger) nennt, haben verschiedene Erklärungen versucht: Die einen nahmen die Verwandlung der menschlichen Natur in die göttliche Natur oder eine Aufsaugung der menschlichen durch die göttliche Natur an; die anderen die Verschmelzung oder Vermischung der beiden Naturen zu einer ganz neuen dritten gleichsam gott-menschlichen Natur; wieder andere nahmen eine Zusammensetzung der menschlichen und der göttlichen Natur nach Art der Vereinigung von Leib und Seele an. Nach dem Monophysitismus ist Jesus also nicht wahrer Gott und wahrer Mensch, sondern ein – wie auch immer geartetes – gott-menschliches Mischwesen. Er besitzt nicht zwei Naturen, die göttliche und die menschliche, sondern nur eine Natur, die gleichsam aus göttlichen und menschlichen Anteilen gemischt ist. Demgegenüber erklärte das vierte Konzil von Chalcedon 451: Die beiden Naturen bestehen nach der Vereinigung ohne Verwandlung oder Vermischung in ihrer Eigenart unversehrt fort. Die eine Person des göttlichen Logos besitzt sowohl die göttliche als auch die als auch menschliche Natur.

Auch nach dem Konzil von Chalzedon kam es zur Kirchenspaltung. Es entstanden damals monophysitische Kirchen in Ägypten, Armenien und Syrien. In dieser Tradition stehen heute die koptische Kirche in Ägypten, die äthiopische Kirche, die eritreische Kirche, die armenische Kirche und die syrische Kirche, die sich Patriarchat von Antiochien nennt. Im Unterschied zu den syrischen Nestorianern nennt man die syrischen Monophysiten nach ihrem ersten Patriarchen Jakob Baradäus auch „Jakobiten“.

Der Monophysitismus hatte dann noch ein Nachspiel im sog. Monotheletismus. Dieser behauptete, in Jesus gäbe es zwar zwei Naturen, aber nur einen Willen, nämlich den göttlichen. Der menschlichen Natur komme nämlich nur die Bedeutung eines willenlosen Werkzeugs in der Hand des göttlichen Logos zu. Auch diese von dem Patriarchen von Konstantinopel Sergius vorgeschlagene Theorie, um die Monophysiten zu gewinnen, wurde verworfen. – Und so stand am Ausgang des christlichen Altertums der Glaube der Kirche endlich so fest, wie wir ihn noch heute bekennen: Jesus – wahrer Gott und wahrer Mensch zugleich.

Das Mittelalter war ein gewaltiger Kulturumbruch und es brauchte lange Zeit, bis die jungen Völker wieder das intellektuelle Niveau des klassischen Altertums erreicht hatten. Auch im Mittelalter gab es infolge von Begriffsverschiebungen bisweilen irrige Auffassungen in der Christologie, die verurteilt wurden, aber die lassen wir einmal auf sich beruhen. In der Neuzeit schließlich, als selbst die Existenz Gottes immer mehr in Zweifel gezogen wurde, war die Gottheit Jesu für viele kein Thema mehr. An der Historizität des Jesus von Nazareth zweifelt heute aber kein ernstzunehmender Historiker mehr. – Soweit der geschichtliche Überblick!

Was das Christentum von Jesus Christus lehrt, ist in der Tat unerhört und einmalig in der Religionsgeschichte. Zwar erscheinen auch in den Religionen der Welt die Götter oder das Göttliche in den verschiedensten Formen und Gestaltungen auf dieser Erde – z.B. Zeus als Stier in der griechischen Mythologie oder Vishnu als Avatar[9] im Hinduismus –, aber sie erscheinen nur in dieser Welt, sie besuchen die Welt vorübergehend, aber sie werden nicht selbst ein Teil der Welt. In Jesus Christus aber ist Gott selbst in diese Welt eingegangen, ist Teil seiner Schöpfung geworden, „ein Mensch wie wir, in allem uns gleich außer der Sünde“ (Hebr 4,15).

Ja, was der Hebräerbrief sagt, ist unerhört und einmalig in der Religionsgeschichte. Darum bin ich überzeugt: Dass uns in dem Menschen Jesus Gott selbst begegnet, das haben sich nicht Menschen ausgedacht, das ist nicht das Ergebnis religiöser Spekulation – so phantastisch die zeitgenössischen religiösen Spekulationen (z.B. in der Gnosis) auch waren –, das ist vielmehr Menschen widerfahren, ist gleichsam von außen auf sie zugekommen, ist ihnen mitgeteilt worden. Nicht schon zu Lebzeiten Jesu, sondern erst in der Begegnung mit dem Auferstandenen haben die Jünger erkannt, wer Jesus wirklich war.

Die Verbindung von Gottheit und Menschheit in diesem Jesus von Nazareth  kann auch die Theologie nicht begreifen oder gar erklären, die Christologie schützt nur die Aussage „Jesus wahrer Gott und wahrer Mensch zugleich“ vor Missverständnissen. Wie die Dreifaltigkeit des dennoch einen Gottes, so ist auch die Verbindung von Gottheit und Menschheit in Jesus ein Mysterium, das wir nicht begreifen und erklären, sondern nur glauben können: glauben auf das Zeugnis derjenigen hin, denen sich der Auferstandene als der lebende und erhöhte Herr geoffenbart hat.

4. Christologie: Nur für Theologen interessant oder auch für unseren Glauben und unsere Frömmigkeit bedeutsam?

Was soll all das Spekulieren und Philosophieren? Was „bringt das“ für den normalen Gläubigen und für sein religiöses Leben — so fragt sich vielleicht manch einer. Zuerst einmal: Auch als normaler Gläubiger muss man doch wissen, an wen man glaubt, zu wem man betet. Und da genügt es freilich zu wissen, dass Jesus wahrer Gott und wahrer Mensch ist. Die Erklärung, wie das näher hin zu verstehen sei, kann man getrost den Theologen überlassen. Wer aber seinen Glauben – soweit das überhaupt möglich ist – auch verstehen will, der muss sich schon mit Theologie beschäftigen.

Doch nun das Entscheidende für unser religiöses Leben: Wir nennen uns nicht umsonst Christen – nicht etwa Monotheisten –, weil Jesus Christus die Mitte unseres Glaubens ist. Im Johannesevangelium sagt Jesus: „Ich bin der Weg, die Wahrheit und das Leben; niemand kommt zum Vater außer durch mich“ (Jo 14,6). Gott ist für uns Menschen schlechthin unbegreiflich und insofern unserer Erkenntnis grundsätzlich entzogen. Erkennbar und zugänglich wird er uns erst, wenn er sich im Menschen Jesus Christus gleichsam auf unser menschliches Maß oder Niveau einlässt.

Darum nennen wir Jesus Christus den Mittler zwischen Gott und den Menschen. Das heißt: Wer zu Gott kommen will, muss zu Jesus Christus kommen! Darum sollte Jesus Christus auch die Mitte unseres Glaubens, unseres Betens und unserer Frömmigkeit sein. Denn in ihm wird Gott für uns konkret, ja geradezu anschaulich. Die Bilder, die wir uns gewöhnlich von Gott machen – der Vater ein alter Mann, der Heilige Geist eine Taube – führen uns eher in die Irre, als dass sie uns zur Erkenntnis des unanschaulichen und unbegreiflichen Gottes führen. Der erhöhte Herr aber bleibt auch im Himmel der Mensch Jesus. Freilich nicht mehr in irdischer Gestalt wie damals auf Erden, sondern in der Gestalt des verklärten Leibes, den auch wir einmal für uns erhoffen, wenn unser irdisches Leben zu Ende gegangen ist. Auch im Himmel bleibt Jesus so der Mittler zwischen Gott und den Menschen.

Es heißt, im Himmel werden wir Gott schauen von Angesicht zu Angesicht, aber Gott hat kein Angesicht wie wir Menschen; erst im Menschen Jesus hat er ein menschliches Antlitz erhalten. Wenn wir Gottes Antlitz schauen, werden wir das Antlitz Jesu Christi schauen. Aber nicht das des irdischen Jesus, sondern das des verklärten, in dem auch seine Gottheit aufleuchten wird.

Was wir dann genau von dem dreifaltigen Gott erkennen werden, weiß ich nicht, denn auch im Himmel bleibt Gott für uns ein letztlich unbegreifliches Geheimnis. Die alten Scholastiker sagten: Wir werden Gott erkennen „totum, non totaliter“; das heißt übersetzt etwa: „ganz, aber nicht völlig“ oder „nicht bis ins letzte Detail“. Mir reicht es, wenn wir das innerste Wesen Gottes begreifen, und das ist nach dem ersten Johannesbrief (1 Joh 4,16 b) Liebe. Und wenn wir innewerden, dass wir in dieser die ganze Schöpfung umfassenden Liebe geborgen und auf immer sicher gehalten sind. – Mehr bedarf es m. E. nicht zur ewigen Seligkeit!


[1] Vgl. das Petrusbekenntnis Mk 8,29; Mt16,16; Lk 9,20. Andreas zu Simon (Petrus): „Wir haben den Messias gefunden“ (Joh 1,41).

[2] Vgl. Mt 28,18.

[3] Vgl. Deut 6,4:„Höre Israel! Der Herr, unser Gott, der Herr ist einzig“.

[4] Siehe neben dem Johannesprolog z.B. Phil 2,6-10.: „Er war Gott gleich, hielt aber nicht daran fest, Gott gleich zu sein, sondern er entäußerte sich und wurde wie ein Sklave und den Menschen gleich. Sein Leben war das eines Menschen; er erniedrige sich und war gehorsam bis zum Tod, bis zum Tod am Kreuz. Darum hat Gott ihn über alle erhöht und ihm den Namen verliehen, der größer ist als alle Namen, damit alle im Himmel, auf der Erde und unter der Erde Ihre Knie beugen vor dem Namen Jesu und jeder Mund bekennt: Jesus Christus ist der Herr, zur Ehre Gottes des Vaters.“

[5] Wenn der Sohn (und später auch Heilige Geist) dem Vater untergeordnet wird, spricht man auch von Subordinatianismus.

[6] Sabellius war ein Priester und Theologe das 3. Jh. Vermutlich stammte er aus Libyen oder Ägypten. Er trat in Rom auf und wurde dort wegen der Erregung von Streitigkeiten aus der Kirche ausgeschlossen.

[7] Ca. 260-336.

[8] 381-451.

[9] Ein Avatar ist die Verkörperung einer Gottheit in einem anderen Körper; am bekanntesten sind die zehn Avatare Vishnus als Fisch, Schildkröte usw.