Busdorfkirche

Was erwartet uns im Fegfeuer?

Von Georg Hintzen

Was erwartet uns im Fegfeuer? Wenn ich ehrlich sein soll: Ich weiß es nicht, ja ich weiß nicht einmal, ob es das Fegfeuer überhaupt gibt, aber ich glaube und hoffe, dass das zutrifft, was unser Glaube über das Fegfeuer lehrt. – Aber was lehrt denn unser Glaube?

Frühere Zeiten hatten es da leichter mit einer Antwort als wir heutzutage. Sie konnten sich das Fegfeuer noch ganz realistisch vorstellen. Wir kennen die bildlichen Darstellungen: Da stehen nackte Gestalten im lodernden Feuer und recken die Arme empor. Ähnlich drastisch sind auch die literarischen Schilderungen: Sie kommen ins Fegfeuer, „wo sie gesotten und gebraten werden“ – so Johannes Tauler in einer Predigt aus dem 14. Jahrhundert.

Aber so realistisch wie damals können wir uns das Fegfeuer heute nicht mehr vorstellen. Vorstellen können wir uns nämlich nur, was in Raum und Zeit gegeben ist. Die eschatologischen Wirklichkeiten – Himmel, Hölle und Fegfeuer – gehören aber nicht unserer Erfahrungswelt an, die in Raum und Zeit gegeben ist. Sie sind außerhalb unseres Raumes und unserer Zeit, das heißt ohne unseren Raum und unsere Zeit zu denken.

Darum können wir uns das Fegfeuer gar nicht vorstellen, wir können es nur zu denken versuchen. Und darum sind auch Fragen müßig wie die, wo das Fegfeuer zu lokalisieren sei – frühere Zeiten glaubten z.B., es sei tief unten in der Erde, vielleicht vor dem Eingang zur Hölle gelegen – oder die Frage, wie lange das Fegfeuer dauert.

Vielleich rührt eine der größten Schwierigkeiten für den Glauben an das Fegfeuer daher, dass wir uns das Fegfeuer nicht konkret vorstellen, sondern nur abstrakt denken können. Was wir uns nicht vorstellen, sondern nur denken können, bleibt für uns nämlich blass und hat für unser Empfinden weniger Realitätsgehalt als das, was wir uns auch vorstellen können. Begriffe ohne Vorstellungen sind leer, hat Kant gesagt, aber andererseits gilt auch: Vorstellungen ohne Begriffe sind blind. Ohne Begriffe begreifen wir nicht, was das ist, was wir uns vorstellen.

Verabschieden wir uns also von all den realistischen Vorstellungen der Vergangenheit und versuchen das Fegfeuer theologisch neu zu denken und zu deuten.

Im Blick auf die erwähnten Vorstellungen der Vergangenheit fällt zunächst einmal auf, dass das Fegfeuer offensichtlich als ein Ort verstanden wurde, an dem die Menschen für ihre Sünden bestraft werden: sie werden „gesotten und gebraten“, wie Tauler sagt. Das aber ist keineswegs selbstverständlich. Der lateinische Ausdruck für das, was wir im Deutschen das Fegfeuer nennen, ist „purgatorium“, und das heißt genau übersetzt etwa „Reinigungszustand“ oder „Reinigungsort“. Demnach werden die Menschen nach dem Tod gereinigt, nicht bestraft.

Die Vorstellung, dass die Reinigung nach dem Tod durch Feuer geschehe, geht übrigens darauf zurück, dass in der Bibel mehrfach das Bild gebraucht wird, dass Gott die Menschen wie durch Feuer reinigt, so wie man Gold oder Silber im Feuer läutert. Zum Beispiel: „Er reinigt die Söhne Levis, er läutert sie wie Gold und Silber“ (Mal 3,3).[i] Aber da ist von Läuterung und Reinigung, nicht von Strafe die Rede.

Die orthodoxen Kirchen halten bis heute an der Vorstellung fest, dass die Menschen nach dem Tod gereinigt werden, und lehnen die westliche Vorstellung von einem als Strafe verstandenen Fegfeuer ab. Nach orthodoxer Auffassung dient die Reinigung nach dem Tod vielmehr der Reifung und Heilung des Menschen.

Dass das Purgatorium in der Kirche des Westens zu einem Ort der Strafe geworden ist, hängt mit dem – grob gesprochen – seit dem Frühmittelalter einsetzenden Verständnis der göttlichen Gerechtigkeit als strafender Gerechtigkeit zusammen. Heute sehen wir jedoch auch in der römisch-katholischen Westkirche, dass damit die göttliche Gerechtigkeit allzu sehr nach Art der menschlichen Gerechtigkeit verstanden wird, denn Gottes Gerechtigkeit ist Liebe, die dem reumütigen Sünder, der umkehrt und sich bessert, auch ohne Strafe verzeiht. Siehe z.B. das Gleichnis vom verlorenen Sohn! Der Vater bestraft den reumütig heimkehrenden Sohn nicht, sondern feiert sogar ein Freudenfest. – Doch das biblische Verständnis der göttlichen Gerechtigkeit wäre ein eigenes Thema, auf das ich hier nicht näher eingehen kann.

Halten wir also als Erstes fest: das Fegfeuer ist kein Straf-, sondern ein Reinigungsort. – Wie aber haben wir diese Reinigung zu denken?

Von einer Reinigung des Menschen nach dem Tod ist in der Bibel expressis verbis nirgendwo die Rede. Erst die nachbiblische Tradition hat diesen Gedanken entwickelt.[ii] Darum hat z.B. der späte Luther das Fegfeuer als unbiblisch abgelehnt und seine Existenz geleugnet. Gleichwohl hat die Tradition diesen Gedanken nicht willkürlich und ohne Grund entwickelt: Welcher Mensch ist denn schon am Ende seines Lebens so vollkommen, dass er sogleich in den Himmel eingehen könnte?

Darum müssen wir die Reinigung nach dem Tod von ihrem Zweck her zu verstehen suchen: Sie soll uns fähig machen für den „Himmel“, d.h. für die Vollendung des Menschen – des Einzelnen wie der ganzen Menschheit und der gesamten Schöpfung. Den Himmel können wir uns ebenso wenig vorstellen wie das Fegfeuer (oder auch die Hölle). Wir können ihn nur denken als die Vollendung der ganzen Schöpfung, als den „neuen Himmel und die neue Erde“, wie es Offb 22,1 heißt, wo alles ganz anders ist, als wir es von unsrer „alten Erde“ her kennen: „Der Tod wird nicht mehr sein, keine Trauer, keine Klage, keine Mühsal. Denn was früher war, ist vergangen. Er, der auf dem Throne saß, sprach: ‚Seht, ich mache alles neu‘“, heißt es Offb 21,4f.

Wie aber sollen wir diese Neugestaltung, diese unsere Vollendung denken? Ich gestehe: Auch nur annähernd exakt beschreiben oder gar begreifen können wir diese Vollendung nicht. Wir können nur „spekulieren“, d.h. Vermutungen anstellen und mehr oder weniger wahrscheinliche Aussagen machen. In diesem Sinne bitte ich Sie, meine folgenden Ausführungen zu verstehen.

Ich gehe davon aus, dass die Menschen in der Endvollendung des „Himmels“ mit Gott und untereinander und mit der ganzen Schöpfung in wahrer Liebe verbunden sind. Wahre Liebe aber ist selbstlose Liebe, die den anderen liebt allein und ausschließlich um seiner selbst willen. Solche Liebe gelingt uns, wenn wir ehrlich sind, hier auf Erden, wenn überhaupt, immer nur unvollkommen. Unsere Liebe ist nämlich immer auch „begehrende Liebe“, die den anderen liebt auch um des Guten willen, das er in unseren Augen für uns darstellt und sehr oft auch ist.

Dass unsere Liebe durchweg begehrende Liebe ist, ist durchaus verständlich: wir bedürfen ja der anderen des anderen, wir brauchen die Mitmenschen und die Dinge dieser Welt, um leben zu können. Wir sind auf Gemeinschaft und Liebe hin angelegt, und so vermag uns schon der Selbsterhaltungstrieb auf den Weg begehrender Liebe zu führen. Aber begehrende Liebe sucht im anderen immer auch den eigenen Vorteil; sie ist ihrem Wesen nach immer auch ichbezogen oder ichzentriert – und als ichzentriert erleben wir uns ja auch durchweg, wenn wir ehrlich sind.

Wenn wir uns nun die eschatologische Vollendung als die vollkommene Gemeinschaft vorstellen dürfen, in der alle Menschen mit Gott und untereinander und mit der ganzen Schöpfung in wahrer selbstloser Liebe verbunden sind, müssen wir annehmen, dass unsere in dieser Erdenzeit erfahrene fundamentale Ichzentriertheit aufgehoben werden muss, damit wir fähig werden zu wahrhaft selbstloser Liebe.

Alles Begehren entspringt aus der Bedürftigkeit des Menschen, weil er der anderen und des anderen zum Leben bedarf. Im Himmel aber erlischt alles Begehren, da der Mensch, in Gottes Liebe geborgen und in seiner Existenz gesichert, nichts mehr zu begehren braucht, weil er in Gott und in der liebenden Gemeinschaft mit allem, was ist, schon alles hat, was er begehrt. Erst in der eschatologischen Vollendung wird so der Mensch fähig zu wahrhaft selbstloser Liebe.

Nach katholischem Verständnis ist unsere natürliche Ichzentriertheit zwar keine Sünde, aber dennoch „fomes peccati“, d.h. Zunder, der zur Sünde führen kann – natürlich nicht muss. Unsere Ichzentriertheit wird erst dann zur Sünde, wenn sie zum Egoismus wird, d.h. zu jener Haltung, welche die Mitmenschen und die Dinge dieser Welt nicht in ihrem Eigenwert achtet, sondern sie als bloße Mittel für eigene Zwecke missbraucht. Diese Gefahr oder Versuchung zur Sünde, die in unserer Ichzentriertheit begründet ist, ist das, was heutige Theologie unter dem – in der Vergangenheit so oft missverstandenen – Begriff der Konkupiszenz versteht.

Und noch ein weiterer Gedanke: Es gibt verschiedene Versuche, das Wesen der Liebe zu erfassen. Folgende Definition scheint mir die zutreffendste zu sein: Liebe ist „unio“. Das heißt: Liebe strebt nach Vereinigung, aus dem Ich und dem Du will ein Wir werden, aus Zweien gleichsam Eins. Solch vollkommene Liebe ist uns aber auf Erden unmöglich. Denn sosehr wir in der Liebe auch innerlich verbunden und vielleicht auch eins sein mögen, leiblich bleiben wir dennoch voneinander getrennt. Erst wenn die Schranken unserer irdischen Leiblichkeit entfallen, kann aus dem Ich und dem Du wirklich ein Wir werden; erst dann wird wahre und vollkommene Liebe möglich sein.

Der christliche Glaube sagt, dass wir leiblich auferstehen, aber unser Auferstehungsleib wird nicht mehr wie unser irdischer Leib sein. Unser Auferstehungsleib wird dem verklärten Leib des auferstandenen Christus gleich sein. Diesen verklärten Leib können wir uns zwar nicht detailliert und konkret vorstellen, aber so viel dürfen wir vielleicht sagen: er wird unser auf Erden erfahrenes Abgegrenzt- und Getrenntsein voneinander nicht mehr haben, sodass wir wirklich Eins sein können. In diesem „Aufgehen“ unseres Ichs im Wir verliert der Mensch zwar sein in diesem Erdenleben erfahrenes Abgegrenzt- und Getrenntsein von anderen und anderem, nicht aber seine Identität. Er bleibt derselbe und wird dennoch zugleich ein anderer. In welchem Bild soll ich diese Umwandlung ausdrücken? Vielleicht so: Wir sind nicht mehr Einzelteile, jeder für sich und immer auf der Suche nach der Verbindung mit anderen, sondern von Anfang an Teile eines Ganzen, von vornherein schon aufs Innigste miteinander verbunden.

Erst so wird der Mensch ja wirklich zum Abbild des dreifaltigen Gottes, in dem die drei Personen nicht als drei unterschiedene „Ichs“ oder Individuen, sondern als eine Gemeinschaft des „Wir“ dreier gleichwohl zu unterscheidender Identitäten definiert sind – eine Gemeinschaft, die wir zwar denken, uns aber nicht vorstellen können, da wir in diesem Erdenleben Gemeinschaft nur als die innige Verbundenheit von Individuen erfahren. Mit anderen Worten: Wir werden miteinander ähnlich verbunden sein, wie die göttlichen Personen, der Vater, der Sohn und der Heilige Geist, miteinander verbunden und eins sind. Insofern dürfen wir uns das Fegfeuer als den Geburtsort eines neuen – des wahren – Menschen vorstellen, wie er nach dem Bilde Gottes geschaffen ist. Denn Gen 1,27 heißt es ja: „Gott schuf den Menschen als sein Bild, als Bild Gottes erschuf er ihn.“

Wie wir diese Geburt erleben werden, weiß ich nicht. Ich kenne die Art und Weise des Erlebens außerhalb von Raum und Zeit nicht. Mit der heiligen Katharina von Genua[iii] möchte ich jedoch annehmen, dass dieser Vorgang nicht nur schmerzlich, sondern auch beseligend ist: schmerzlich, insofern der alte Mensch vergeht, beseligend, insofern ein neuer Mensch entsteht. In dieser Wandlung „bereinigt“ der Mensch nicht nur sein in diesem Erdenleben unvollkommen gebliebenes Verhältnis zu Gott, sondern auch zu seinen Mitmenschen. Auch das Letztere ist schmerzlich und beseligend zugleich: schmerzlich, insofern z.B. Hass und Feindschaft überwunden werden müssen, beseligend, insofern nun endlich wahrhaft und ehrlich Vergebung und Versöhnung geschehen.

Dass die Aussöhnung mit unseren Mitmenschen auch eine Bedingung für den Eintritt in den Himmel ist, wird leicht übersehen, und ich vermute, da hat manch einer noch einiges nachzuholen, was er auf Erden versäumt hat oder nicht hat tun können. Und mir persönlich scheint – natürlich aus der Sicht unserer irdischen Befindlichkeit gesagt –, dass diese Aussöhnung uns Menschen oft schwerer fällt als mit Gott ins Reine zu kommen.

Ich vermute auch, dass die Transformation unseres Ichs kein rein passives Erleiden ist, wie es die traditionelle Vorstellung vom Fegfeuer als einem Ort der Strafe angenommen hat. Ich vermute, dass wir auch aktiv daran beteiligt sind; dass wir selbst diese Umwandlung wollen und unterstützen. Die heilige Katharina von Genua schreibt in ihrer Vision vom Fegfeuer:

„Ich sehe, wie vonseiten Gottes das Paradies kein verschlossenes Tor mehr hat, denn wer eintreten will, der tritt auch wirklich ein, Gott ist ja lauter Barmherzigkeit und steht mit seinen uns entgegengestreckten Armen da, um uns in seine Herrlichkeit aufzunehmen. Aber ich sehe auch, dass die göttliche Wesenheit von solcher Lauterkeit und Reinheit ist, […] dass die Seele sich so schnell wie möglich in tausend Höllen stürzen würde, um ja nicht mit dem kleinsten Makel in seiner Gegenwart zu erscheinen. Da sie aber sieht, dass das Fegfeuer dazu bestimmt ist, diesen Makel zu beheben, so stürzt sie sich da hinein und es scheint ihr, dass darin große Barmherzigkeit liegt, dass sie sich von dem in ihr vorhandenen Hindernis auf diese Weise befreien kann.“[iv]

Welch ein Gegensatz zu der traditionellen Auffassung! Hier das Bild eines Gottes, der mit offenen Armen dasteht, um die Verstorbenen zu empfangen. Und in der traditionellen Auffassung das Bild des Furcht einflößenden Richters, wie es z.B. das „Dies irae“ zeichnet, das bis zur Liturgiereform sogar als Sequenz Teil der Messe für Verstorbene war: Quantus tremor est futurus, quando iudex est venturus cuncta stricte discussurus. „Welch ein Graus wird sein und Zagen, wenn der Richter kommt mit Fragen streng zu prüfen alle Klagen.“ Nein, im Tod erwartet uns nicht ein Furcht erregendes Gericht, sondern unsere Umwandlung, wie es in der Präfation der Totenmesse heißt: „Deinen Gläubigen, Herr, kann ja das Leben nicht genommen werden, es wird nur neugestaltet.“

Wir dürfen uns nämlich die Begegnung mit Gott in Christus im Tod – auch im Jenseits bleibt Christus ja der Mittler zwischen uns Menschen und dem für uns immer unbegreiflich bleibenden Gott – wir dürfen uns diese Begegnung nicht nach Art des menschlichen Gerichtswesens vorstellen, in dem Gesetzesübertretungen mit Strafen belegt werden. Nicht Sünden werden bestraft, sondern die Folgen der Sünde werden beseitigt. Darum hat auch die heutige Theologie den Begriff der Sündenstrafe weithin durch den der Sündenfolge ersetzt.

Und wenn schon von einem Gericht die Rede sein soll, dann richtet sich der Mensch eher selbst. So wie die heilige Katharina von Genua sagt, in der Begegnung mit dem heiligen Gott erkenne der Mensch seine eigene Unreinheit und verlange selbst danach, gereinigt zu werden.

Einem möglichen Einwand möchte ich jedoch zuvorkommen: Zu sagen, Gott strafe die Sünde nicht, bedeutet keineswegs, die Sünde zu verharmlosen. Gott verhängt keine Strafen, wie sie im menschlichen Gerichtswesen zur Sühne für eine Gesetzesübertretung erst nach der Tat auferlegt werden, jedoch nicht aus der Tat selbst entspringen, vielmehr hat die Sünde aus sich selbst heraus zwangsläufig negative Folgen: sie schadet nicht nur dem Sünder selbst, sondern meist auch den Mitmenschen und der Welt. Sünde ist Selbstzerstörung des Menschen – so lautet ein bekanntes Wort. „Die Sünde gebiert so in gewissem Sinn ihre eigene Strafe“, so hat Karl Rahner es einmal formuliert.[v] Darum braucht Gott die Sünde gar nicht zu bestrafen; der Sünder bestraft sich vielmehr selbst, so könnte man sagen.

Denn wenn schon die natürliche Ichzentriertheit den Menschen unfähig macht für die vollkommene Gemeinschaft des Himmels, in der alle Menschen mit Gott und untereinander und mit der ganzen Schöpfung in wahrer Liebe verbunden sind, dann erst recht die Sünde, die ja das Ich in ungebührlicher Weise und rücksichtslos zum Schaden für andere und anderes übersteigert. Denn Sünde ist ihrem Wesen nach – so habe ich oben gesagt – jene Haltung des Egoismus, welche die Mitmenschen und die Dinge dieser Welt nicht in ihrem Eigenwert achtet, sondern sie als bloße Mittel für eigene Zwecke missbraucht. Sünde ist daher ihrem Wesen nach ein Verstoß gegen die Liebe. In ihr wird die natürliche Ichzentriertheit zur Ichverhärtung – so könnte man es vielleicht ausdrücken. Und das gilt auch für die lässlichen Sünden. Die haben wir übrigens allein und ausschließlich im Blick, wenn von der Reinigung nach dem Tod oder dem Fegfeuer die Rede ist. Denn Todsünder kommen ja bekanntlich in Hölle.

Darum muss nicht nur die natürliche Ichzentriertheit, sondern auch – und vor allem – die durch die Sünde verursachte Ichverhärtung bereinigt werden, wenn der Mensch in jene vollkommene Gemeinschaft des Himmels eingehen soll, in der allein die Liebe Platz hat. Und dem unterschiedlichen Grad der Ichverhärtung entsprechend wird auch die Reinigung der einzelnen Menschen unterschiedlich intensiv sein. Oder traditionell ausgedrückt: wird das Fegfeuer längere oder kürzere Zeit dauern.

Ich fasse das Gesagte zusammen: In der Reinigung des Menschen nach dem Tod geschieht nicht die Bestrafung des Sünders, sondern die Vollendung des auf Erden immer unvollkommen bleibenden Menschen. Wer das glauben kann, der braucht vor dem Tod keine Angst zu haben. Vielleicht wird er sich sogar freuen auf das, was dann kommen wird: auf „das, was kein Auge gesehen und kein Ohr gehört hat, was in keines Menschen Herz gedrungen ist: das Große, das Gott denen bereitet hat, die ihn lieben“(1 Kor 2,9).


[i] Vgl.: Der Schmelztiegel ist für Silber da, der Ofen für Gold, die Herzen aber prüft der Herr (Spr 17,3). Siehe, ich habe dich geläutert, doch nicht um Silber: Ich habe dich erwählt im Schmelzofen des Elends. (Jes 48,10). Ja, du hast, Gott, uns geprüft und geläutert, wie man Silber läutert. (Ps 66,10). Doch er kennt den Weg, den ich gehe; prüfte er mich, ich ginge wie Gold hervor. (Ijob 23, 10).

[ii] Seit dem 3. Jh. n.Chr., zum ersten Mal belegt bei Origenes (um 185 – 253/54).

[iii] F. Holböck, Die Theologin des Fegfeuers: Hl. Katharina von Genua, Stein am Rhein ²1991, S. 113.

[iv] A.a.O. 113 f.

[v] Kleiner theologischer Traktat über den Ablass, in: Schriften zur Theologie VIII, Einsiedeln 1967, S. 475.

Zusatz zum Gilde-Referat über das Fegfeuer

05.07.2021

Mir ist eine gewisse Nähe der skizzierten Vorstellung vom Fegfeuer zu der buddhistischen Vorstellung des Nirwana aufgefallen. Im Nirwana geht das Ich in der Alleinheit auf. Könnte es sein, dass in dieser Vorstellungen vielleicht erahnt wird, dass der Mensch in der Gestalt, wie wir ihn in diesem Erdenleben erfahren, gar nicht wahrhaft glücklich – christlich gesprochen: „selig“ – werden kann und deshalb in dieser irdischen Gestalt vergehen muss, um selig zu werden? Westliches Denken ist zwar geneigt, ein Aufgehen des Ich in der Alleinheit so zu verstehen, als ob das Ich völlig dahinschwinde, aber wenn das Nirwana als das zu erstrebende und erlösende Ziel verstanden wird, ist vielleicht doch vorausgesetzt, dass hier gleichwohl eine gewisse Identität zwischen dem irdischen und dem im Nirwana erlösten Menschen bestehen bleibt. Und vielleicht ist ja mit dem Aufgehen des Ich in der Alleinheit dasselbe anvisiert, was nach christlicher Auffassung in der durch die vollkommene Liebe bewirkten Wandlung des Ich und des Du zum Wir geschieht.

Nehmen wir das an, dann versuchen östliches und christliches Denken in ihrer Weise die Vollendung des Menschen denkerisch zu erfassen. Wäre nämlich das völlige Verschwinden der Person tatsächlich das zu erstrebende Ziel, könnte der Mensch sich ja auch umbringen. Und auch aus christlicher Sicht ist das Aufheben der Ichzentriertheit des Menschen in gewissem Sinne ja auch eine „Entpersönlichung“, insofern die im Erdenleben ausgebildete – immer mehr oder weniger ichzentrierte – „Persönlichkeit“ vernichtet bzw. überwunden wird.

Und noch eine Ähnlichkeit ist mir aufgefallen. Der Grund für das Elend und die Unvollkommenheit unserer irdischen Existenz ist nach buddhistischer Auffassung die Begierde des Menschen, der Drang, sich die Welt, die Dinge wie auch die Menschen, anzueignen und sich dienstbar zu machen. Auch hier sehe ich eine Nähe zu dem, was ich als Ichzentriertheit, bezeichnet habe, die nur allzu leicht zur Ichverhärtung durch die Sünde führt.

Und weiter: Der Weg zur Erlösung besteht nach buddhistischer Auffassung in der Aufhebung und restlosen Vernichtung der Begierde. Auch hier sehe ich eine Nähe zu dem, was ich als das notwenige Aufheben unserer Ichzentriertheit bzw. Ichverhärtung bezeichnet habe.[i] Und wenn der Buddhismus u.a. das „Wohlwollen“ (maitri) und das „Mitleid“ oder „Mitgefühl“ (karuna), die Liebe zu allem, was ist, als einen Weg zur Erlösung empfiehlt, sehe ich wieder eine Nähe zum christlichen Liebesgebot.

Nun will ich keineswegs die Gleichwertigkeit oder gar die Identität von Christentum und Buddhismus behaupten. Aber mir scheint doch, dass im Buddhismus zumindest etwas von dem erahnt ist, was das Christentum lehrt. Und so leuchtet mir ein, was das Zweite Vatikanische Konzil in seiner Erklärung „Nostra aetate“ lehrt: dass alle Religionen in ihrer Weise Heilswege sein können, wenn man sie denn wahrhaft geht.


[i] Vgl. die vier edlen Wahrheiten: „Dies, ihr Mönche, ist die edle Wahrheit vom Leiden. Geburt ist Leiden, Alter ist Leiden, Krankheit ist Leiden, mit Unliebem vereint sein ist Leiden, von Liebem getrennt sein ist Leiden, nicht erlangen, was man begehrt, ist Leiden: kurz die fünferlei Objekte des Ergreifens sind Leiden.

Dies, ihr Mönche, ist die edle Wahrheit von der Entstehung des Leidens: es ist der Durst, der zur Wiedergeburt führt, samt Freude und Begier, hier und dort seine Freude findend: der Lüstedurst, der Werdedurst, der Vergänglichkeitsdurst.

Dies, ihr Mönche, ist die edle Wahrheit von der Aufhebung des Leidens: die Aufhebung dieses Durstes durch restlose Vernichtung des Begehrens, ihn fahren lassen, sich seiner entäußern, sich von ihm lösen, ihm keine Stätte gewähren.

Dies, ihr Mönche, ist die edle Wahrheit vom Wege zur Aufhebung des Leidens: es ist dies der Edle achtteilige Pfad, der da heißt: rechtes Glauben, rechtes Entschließen, rechtes Wort, rechte Tat, rechtes Leben, rechtes Streben, rechtes Gedenken, rechtes Sich-Versenken.“