Busdorfkirche

Abraham – unser Vater im Glauben

Eine biblisch-pastorale Besinnung

Von Hermann-Joseph Rick

Verehrte Damen und Gäste, Liebe Gildefreundin und Gildefreunde,

nur mit einer gewissen  Scheu trage ich diese biblisch-pastorale Besinnung vor, weil sich der eine oder andere von einzelnen Aussagen betroffen fühlen mag. Das ist auch durchaus auch so gemeint. Es soll um das praktische Verhalten zu Gott in unserm Alltag gehen. Das soll ohne persönliche Anhaltspunkte geschehen, die sich jedoch inclusiv nicht vermeiden lassen.

Soweit die Vorbemerkung, der jetzt die Hauptsache folgt.

An einer wichtigen  Stelle seines Briefes an die Römer verweist der  Apostel Paulus auf Abraham. Es geht dem Völkerapostel hier um die Eintracht von Juden und Heiden in der christlichen Gemeinde. Er fragt: „Ist denn Gott nur der Gott der Juden, nicht auch der Heiden?“ Er fügt hinzu: „Ja, auch der Heiden, da doch gilt: Gott ist der eine. Er wird auf Grund des Glaubens sowohl die Beschnittenen wie die Unbeschnittenen gerecht machen“ (Röm 3, 29-30). Etwas später ruft er Abraham als Zeugen auf, den hoch verehrten Patriarchen der Juden. Er fragt im Stil jüdischer Disputationskunst: „Wann wurde Abraham seine Gerechtigkeit angerechnet, als er beschnitten oder als er unbeschnitten war? Nicht als er beschnitten, sondern als er noch unbeschnitten war. Das Zeichen der Beschneidung empfing er zur Besiegelung der Glaubensgerechtigkeit, die ihm als Unbeschnittenem  zuteil wurde; also ist er der Vater aller, die als Unbesschnittene glauben und denen daher Gerechtigkeit angerechnet wird“ (Röm 4,10-12).

Es geschieht hier  – soweit ich sehe – zum ersten Mal, daß Abraham als Vater des Glaubens auch der unbeschnittenen Christen, d.h. der Heiden, die zum Glauben an Jesus Christus gekommen sind, deklariert wird. Genau betrachtet, gehören auch wir zu den Christen, die als Heiden zum Glauben kamen. Das ist Anlaß und Grund genug, sich mit der Gestalt Abrahams zu beschäftigen und anschließend zu fragen, was er für uns bedeutet.

Ein Mann des unbedingten Gottvertrauens

Die Geschichte von Abraham findet sich im Buch Genesis. Dieses erste Buch der Heiligen Schrift schildert – teils mit großen Zeitraffern – in siebzig Kapiteln die Geschichte der Welt von ihrem Beginn an bis zum Tod Josefs, des Sohnes von Jakob. In den siebzig Kapiteln sind allein vierzehn Abraham und seiner Geschichte reserviert (Kap 12-25). Das sind 20 Prozent des Gesamttextes. Schon das zeigt rein statistisch die Bedeutung, die die Autoren bzw. Redaktoren der Schrift jener Gestalt zugewiesen haben. Die Geschichte ist so konzipiert, daß sie problemlos aus dem Buch Genesis herausgelöst werden könnte. Wir hätten dann – literarisch betrachtet – eine meisterlich geschriebene Novelle vor uns, in der sich jede Episode harmonisch aus dem Vorhergesagten ergibt.  [Als Beispiel sei das am Verhältnis Abrahams und Lots gezeigt.

Dieser Neffe Abrahams war zusammen mit seinem Onkel auf Wanderschaft gegangen, wobei beide ihre ganze Habe mitsamt ihrer Herde mitnahmen. Als es unterwegs zwischen den Hirten beider zum Streit kam, schlug Abraham eine Trennung vor: Lot sollte wählen, in welche Richtung er weiter wandern wolle, er selbst wolle dann in eine andere Richtung ziehen. Lot wählte einen Weg, der ihn schließlich nach Sodom als dauerndem Wohnsitz führte. Abraham war inzwischen bis zu den Eichen von Mamre gekommen. Dort erschienen ihm die „Männer“, die ihm ankündigten, Sodom wegen der üblen Zustände dort zerstören zu wollen. Es kam zwischen Abraham und den „Männern“ zum Handel um die Gerechten, die in Sodom wohnten. Tatsächlich retteten sie den Lot und seine Familie. Es heißt dann, die „Männer“ hätten sich an den Handel mit Abraham erinnert. Die Rettung Lots war also der Fürbitte Abrahams zu danken. Solche Art sachlicher Verknüpfungen gibt es mehrere in der Abraham-Novelle. Doch das ist ein anderes Kapitel.

Zurück zu unserm Vater im Glauben.] Als Abraham den Ruf vernahm: „Zieh fort aus deinem Land, … in das Land, das ich dir zeigen werde“ (Gen 12,1), quälte er sich nicht mit Bedenken: Warum soll ich mein Land verlassen, in dem es mir gut geht? Was wird das für ein Land sein, das Er mir zeigen wird? Was habe ich davon, wenn ich Ihm folge? Nein, er handelte spontan. Er nahm seine Frau, seine Angestellten, seine ganze Habe, seine Herde und machte sich auf, ohne sich darum zu kümmern, wohin der Weg ihn führen werde. Wir wissen nicht, wie lange die Wanderung dauerte. Aber wir wissen, daß er bei jeder Rast „dem Herrn einen Altar baute“ (Gen 12,7). Er brachte dem Herrn ein Opfer dar. Das war ein freiwilliges Geschehen, denn es gab ja noch keine „Gottesdienst-Ordnung“. Wie ein solches Opfer aussah, schildern die Verse  15,5 bis 15,17. Diese Opfer sind Zeichen für das Wissen  Abrahams, daß er dem Herrn Verehrung schuldete. Seine Frömmigkeit war das Motiv seines  unbedingten Gehorsams gegenüber dem Ruf Gottes, wie er sich in seiner widerspruchslosen Wanderung äußerte.

Das selbstverständliche Verhalten Abrahams gegenüber Gott blieb nicht ohne Echo. Gott kündigte ihm die Geburt eines Sohnes an: „Geh hinaus und zähle die Sterne, wenn du kannst: So zahlreich werden deine Nachkommen sein“ (Gen 15,5).  Auch diese Verheißung, die in eine fernere Zukunft reicht, nimmt Abraham ohne Fragen an. Es heißt lapidar: „Abraham glaubte dem Herrn, und der Herr rechnete ihm das als Gerechtigkeit an“ (Gen 15,6).

In der „Nova Vulgata“ steht an dieser Stelle: „Abraham credidit“. Das besagt mehr als „er glaubte“. Denn credere bedeutet noch vor „glauben“ zunächst „vertrauen“. Wir könnten demnach auch übersetzen: Abraham vertraute dem Herrn – und damit sein dauerndes Verhalten zur Sprache bringen und einen Wesenszug Abrahams beschreiben. Das wurde ihm als „Gerechtigkeit“ angerechnet. Gemeint ist nicht eine Art juristischer oder sozialer Gerechtigkeit. Der „Gerechte“ ist vielmehr einer, der durch seine aufrechte und ergebene Haltung Gott wohlgefällig ist[1]. Der Vers 15,6 besagt demnach: Der Herr begegnet dem Vertrauen Abrahams mit Zuneigung und Liebe.  

Hier erklärt sich, wovon die ganze Erzählung handelt: Das Verhältnis Abrahams zum Herrn ist ein dialogisches Verhältnis. Auf das Vertrauen Abrahams reagiert der Herr mit Zuneigung, und umgekehrt: Auf die Zuneigung des Herrn antwortet Abraham mit Vertrauen, das seinerseits Zuneigung in sich schließt. Diesen Bund bestätigte Abraham, indem er auf Geheiß des Herrn an sich selbst und allen männlichen Mitarbeitern seines Hauses die Beschneidung vollzieht, die für die Zukunft zur festen Regel werden sollte. Die Beschneidung ist tatsächlich, wie Paulus in dem eingangs zitierten Römer-Brief schrieb, nicht Voraussetzung für den Bund, sondern dessen Bestätigung.

Jetzt, nach Abschluß und Besiegelung des dialogischen Bundes wird dem hochbetagten Anbraham und seiner ebenfalls hochbetagten Frau Sara der seit langem verheißene Sohn Isaak geboren, der zum Stammvater eines großen Volkes bestimmt wurde.  Wir können uns gut vorstellen, wie groß die Freude über diese Geburt war,  erfüllte sie doch eine jahrelange Sehnsucht Abrahams; nun würde sein Haus Bestand in die Zukunft hinein haben. Was er nicht ahnte war, daß gerade dieser Langersehnte die härteste Glaubensprobe für ihn werden würde.

Zu der Zeit, als Isaak zur Reife kam (vgl. Gen 22,3), forderte der Herr, der Isaak verheißen und geschenkt hatte, diesen zum Opfer. Und Abraham nahm ohne zu fragen den Jungen und bereitete alles für das  Opfer vor. Dann nahm er Isaak mitsamt einer kleinen Schar von Helfern mit und machte sich schweigend auf den Weg zur Opferstätte.

Dort trieb der Herr seine Glaubensprobe auf die Spitze. Er sah zu, wie Abraham den Altar baute, wie er das Holz aufschichtete, seinen Sohn fesselte und auf den Altar legte. Erst im letzten Moment, als  Abraham das Messer hob, um den Sohn zu schlachten, rief  ihm der Herr zu: Halt an, „tu dem Jungen nichts zu leide! Denn jetzt weiß ich, daß du Gott fürchtest; du hast mir deinen einzigen Sohn nicht vorenthalten“ (Gen 22,12). Abraham mag erleichtert aufgeatmet haben. Er sah einen Widder, der sich im Gebüsch verfangen hatte. Diesen opferte er nun statt seines Sohnes.

An dieser  Stelle sprach der Herr noch einmal zu Abraham. Er sagte: “Ich habe bei mir geschworen – Spruch des Herrn: Weil du das getan hast und deinen einzigen Sohn mir nicht vorenthalten hast, will ich dir Segen schenken in Fülle und deine Nachkommen zahlreich machen wie die Sterne am Himmel und den Sand am Meeresstrand. Deine Nachkommen sollen das Tor der Feinde einnehmen.  Segnen sollen sich mit deinen Nachkommen alle Völker der Erde, weil du auf meinen Namen gehört hast“ (Gen 22,16-18).

Ähnliche Verheißungen hat es im Lauf der Geschichte wiederholt gegeben. Dieses Mal fallen zwei Besonderheiten auf. Einmal geschieht die Verheißung im Zusammenhang mit dem Opfer, und zum andern legt der Herr die Verheißung unter Eid ab: „Ich habe geschworen“. Beides verleiht der Verheißung eine verbindlichere Qualität.

Nachdem Abraham den Treueid des Herrn empfangen hatte, kehrte er mit seiner Begleitung an seinen Wohnort zurück. Damit endet faktisch  die Erzählung von Abraham. Die beiden folgenden Kapitel 23 und 24 beschreiben das Grab, in dem er Sara, seine Frau, begrub, und ausführlich die Hochzeit Isaaks. Erst im Kapitel 25 wird Abraham noch einmal erwähnt: Abraham „starb im hohen Alter, hochbetagt und lebenssatt, und wurde mit seinen Vorfahren vereint“ (Gen 25,8). Und Gott segnete  dessen Sohn Isaak (Gen 25,11).

Im Laufe der Zeit verblasste Abrahams Glaubenskraft allmählich. Das fing schon mit seinem Enkel Jakob an, der widerrechtlich dem Bruder das Erstgeburtsrecht abhandelte und den Segen seines Vaters erschlich (Gen 27). Daß die Menschen nicht mehr auf den Wegen des Herrn, sondern auf eigenen Wegen gingen, wurde langsam in Israel zu Mode. Der Psalmist kann mit Recht sagen: „Sie sind ein störriges und widerspenstiges Volk“ (Ps 78,8)[2] und: „meine Wege kennen sie nicht“ (Ps 95,10). Dennoch blieb der Herr  bei seinem dem Abraham geschworenen Treueid. Er beteuert: „Ich entziehe ihnen nicht meine Huld, breche ihm nicht die Treue“ (Ps 89,34).

Gleichzeitig gab es in Israel aber auch immer wieder das Bestreben, der Glaubenskraft Abrahams zu folgen. Erinnert sei nur an Jeremia, der trotz eigener Bedenken dem Ruf Gottes folgte (Jer 1,6ff), oder an Samuel, der noch erst lernen mußte, der Stimme des Herrn zu folgen (Sam 3,1f).

Dieser Wille zur Nachfolge ist auch im Neuen Testament deutlich zu spüren. Da ist an erster Stelle Jesus selbst zu nennen, der gekommen ist, den Willen des Vaters zu tun (Joh 6,38), aber auch sein familiäres Umfeld. Besonders ausdrucksvoll wird es bei der Berufung der ersten Gefährten Jesu geschildert (Mat. 1,16-20, par). Auf den Ruf Jesu hin verlassen sie sofort ihre Arbeit und ihren Vater und folgten ihm, ohne zu wissen, was aus ihnen werden würde. Das Evangelium nach Johannes weiß noch eine bezeichnende Einzelheit zu berichten: Andreas lief zu Petrus mit der Neuigkeit: „Wir haben den Messias gefunden“ (Joh 1,41), also den, der die Geschichte Israels zur Vollendung führen sollte. Von den Gefährten Jesu wird gesagt, sie gingen mit ihm und blieben bei ihm (Joh 1,39). Das Bei-ihm-Bleiben meint nicht nur körperliche Anwesenheit, sondern in erster Linie Nachfolge. In ihnen allen lebte und wirkte der Geist abrahamitischen Glaubens.

Abrahams Beispiel für uns

Dieses Verhalten, das uns im Alten und Neuen Testament vor Augen geführt wird, stellt uns vor die Frage: Was haben wir mit Abraham zu tun, den uns Paulus so eindringlich als unsern Vater im Glauben vorgestellt hat. Der Apostel meint mit seinem Vater-Bild  natürlich nicht eine natürliche Nachkommenschaft. Er versteht „Vater“ als einen, dem nachzueifern sich empfiehlt. Wie steht es damit bei uns?

Aus unserm Schul-Katechismus haben wir gelernt: „Glauben heißt fest für wahr halten, was Gott geoffenbart hat“ und – wie ein späterer Katechismus hinzufügt: „von der Kirche die Menschen erreicht“.[3] Inzwischen haben wir uns einen Berg von Glaubensdingen angeeignet, die wir mehr oder weniger für wahr halten. Bei all dem Bemühen haben wir übersehen oder vergessen, uns ganz und gar auf Gott zu verlassen. Credo heißt ja nicht nur „ich glaube“, sondern zuvörderst – wie wir bereits sahen -: „Ich vertraue“ auf Gott. Von diesem mündlichen Bekunden sind wir, so scheint mir,  in unserm praktischen Leben oft weit entfernt.

Ein Blick auf unsere Sprachgewohnheit kann uns das bestätigen. Wenn uns eine Begebenheit trifft, reagieren wir mit dem Ausruf: Da habe ich aber Glück bzw. Pech gehabt. Glück und Pech sind keine objektivierbaren Größen, sondern hängen jeweils von unserem Empfinden ab. Warum sagen wir nicht einfach: Da hat Gott uns beschützt, bzw. da hat uns Gott vor Schlimmerem bewahrt. – Oder: wenn uns die Nachricht von einer Katastrophe erreicht, reagieren wir mit der Feststellung, das sei Schicksal. Dieses Wort bezeichnet das, was geschickt ist. Wir fragen kaum einmal, wer denn was geschickt haben mag. Wir vermeiden es, den personalen Gott, dieses unbegreiliche und deshalb auch unbegreifbare Mysterium, auch nur zu benennen. Ihn im Blick zu behalten wäre ein deutliches Bekenntnis, von dem das zweite Prinzip der Losung des CRM spricht.[4] In den großen Lebensfragen sind wir nicht oft gefordert, uns öffentlich als Christen zu bekennen.  In den zitierten Fragen unseres Alltags haben wir dazu die Chance zu bekennen, uns Gottes zu erinnern, “der alles so herrlich regieret, der dich auf Adelers Fittichen sicher geführet.“[5]   Hier bietet sich uns die Möglichkeit, von unserm  durch das Grundgesetz geschützten Recht auf Religionsfreiheit Gebrauch zu machen.

 Es genügt allerdings nicht, Gott nur im schlimmsten Fall zu zitieren. Da „stellen wir ihn auf die Probe“ (Ps 78,41), indem wir kritisch und vorwurfsvoll fragen: Wie kann Gott das zulassen? Auf diese Frage erhalten wir,  so oft wir sie auch stellen mögen, keine Antwort. Ist Er uns denn Rechenschaft schuldig? Aus seinem Schweigen schließen wir in unserer Selbstverliebtheit, Gott habe sich von uns entfernt, „er sieht uns nicht“ (vgl. Ps 19,11).

Gott hatte Abraham einen Treueid geschworen. Es gibt nirgendwo einen Hinweis, daß Er seine Treue gebrochen hat. Im Gegentei: Es ist wohl so, daß wir uns von Ihm entfernt haben, weil wir – wie die Beispiele zeigten – nicht mehr ernsthaft mit ihm rechnen. Auf uns selbst gestellt, geraten wir angesichts der Wechselhaftigkeit und Unbeständigkeit des Lebens in Unsicherheit und suchen nach einem festen Orientierungspunkt. Das alles weiß Gott und will uns helfen. Paulus versichert: „Gott ist treu“ (1. Kor,1,9). Deshalb läßt Gott uns durch prophetisches Wort ermutigen: „Sucht ihr mich, dann findet ihr mich“ (Jer29,30). Es liegt an uns, die empfundene Entfernung zu überbrücken. Freilich bedarf es dazu unserer Willens-Entscheidung. Von Gott aus ist alles bereit. Gott streckt seine Hand nach uns aus, wir brauchen sie nur zu ergreifen (Vgl. Eph3,20).  Das geschieht, wenn wir das Gute, das uns Tag für Tag begegnet, als Fügung seiner gütigen Hand empfangen. Das gilt auch, wenn uns Hinderliches oder gar Übles begegnet. Auch hier hat Gott seine Hand im Spiel.

Ein überzeugendes Beispiel bietet uns das Buch Ijob. Dieser große alttestamentliche Dulder hat alles verloren:  Besitz, Familie, Gesundheit. Nur drei Freunde sind ihm geblieben. Ihnen gegenüber äußert Ijob seine Klage über das Geschehen. Da tröstet ihn Elifas: „Selig der Mensch, den Gott zurecht weist! Die Zucht des Allerhöchsten verschmähe nicht! Denn er verwundet und er verbindet, er schlägt, doch seine Hände heilen auch“ (Ijob 5,17-18).

Daß diese göttliche Pädagogik nicht nur bei persönlichen sondern auch in Fällen kollektiver Katastrophen möglich ist, zeigt uns der Prophet Baruch. „Das personifizierte Jerusalem wendet sich mit Verheißungen an die im babylonischen Exil lebenden jüdischen Gemeinden“[6]: „Er, der über euch das Unheil gebracht hat, wird mit seiner Rettung euch ewige Freude bringen“ (Bar 4, 29).

Beide Trostworte schließen mit einer Verheißung: Bei Ijob mit der Wiederherstellung des ursprünglichen Zustandes, bei Baruch mit der Rettung Israels aus der Verbannung. In der Heiligen  Schrift ist jeder Wehe-Ruf mit einer Verheißung auf Besseres verbunden, die auch eine Einladung zum Ausharren beinhaltet, so wie Abraham jahrelang auf die Erfüllung der an ihn ergangenen Verheißung schweigend gewartet hat. In dieser Zeit des Wartens können die Betroffenen erfahren, daß Gott keinesweg stumm ist, sondern mit ihnen spricht. Schon Benedikt von Nursia stellte die rhetorische Frage, ob nicht jede Seite und jeder Ausspruch der Heiligen Schrift eine ganz gerade Richtschnur für das menschliche Leben sei.[7] Aus dem „Wort des Herrn“ – wie die Liturgie sagt – kommt die Kraft, alles Beglückende und Bedrückende zu ertragen. Überdies spricht Er zu uns durch vielerlei Hinweise und Zeichen, die Er uns im Alltag an unserm Weg aufrichtet.

Abraham lehrte uns, daß Gott denen spürbar nahe ist, die sich Ihm anvertrauen.  Das fällt uns aufgeklärten Menschen des 21. Jahrhunderts offensichtlich schwer, die wir von allzu vielen Angeboten in unserm bürgerlichen Christentum gefangen sind. Dabei ist, um die oft genannte Erfahrung von Nelly Sachs zu zitieren, „Gott nur ein Gebet weit entfernt“. Als Gebet, das uns zu dieser Brückenbildung veranlassen kann, mag uns der Psalm 139(138) dienen[8]. Das „Stundenbuch“ gibt ihm die Überschrift „Der Mensch in Gottes Blick“.[9]

Wer sich in diesen Psalm betrachtend vertieft, lernt das  Staunen über die unbegreifliche Größe und Nähe Gottes, der uns wundervoll umsorgt und begleitet. Der Psalmist besingt Gott, damit derLeser versteht, daß es dem Sänger „mit seiner Lebensoption ernst ist“.[10]  Von ihm wird der Beter unwillkürlich angeregt, sein Leben ausdrücklich den kostbaren Gaben Gottes zu verdanken und es als solches zu begreifen. Ihm öffnet sich ein Raum der Transzendenz, und er steht in der Grundausrichtung des abrahamitischen Glaubens. Wer auf diese Weise „in seinem innersten Wesen von der Gegenwart Gottes erfüllt ist, den muß es dazu drängen, alles zu bekämpfen, was die Welt Gottes, …  gefährdet und zerstört“[11]. Er lernt das aufmerksame und gehorsame Hören auf Gott.

Zunächst unbewußt, im Laufe der Zeit aber sehr bewußt, wechselt der Beter die Perspektive für den Blick auf die Welt. Was Werbung und Gesellschaft anbieten, ist ihm minderranging. Alles Säkukare wird für ihn zum Pofanen, zu dem, was vor dem „göttlichen Bereich“ (Pierre Teilhard de Chardin) liegt. Er hat die Gewißheit, daß Gott alles sortiert und das, was dem Menschen dient, auswählt.  Alle Aufgeregtheit des Menschen verweht, auch wenn uns ein Ansinnen tief innerlich aufwühlen sollte. Gott läßt nicht zu, daß wir über unsere Kraft hinaus versucht werden (1 Kor 10,13).  Was bleibt ist eine kraftvolle Ruhe, die in dem Wissen gegründet ist, der nahe, allgütige Gott wird alles zu unserm Besten ausrichten.

Hier sei noch einmal an Abraham erinnert. Von ihm sagt die Heilige Schrift, er sei „lebenssatt“ gestorben. Er konnte auf Grund seines unbedingten Gott-Vertrauens auf ein in reichem Maß zufriedenes Leben zurückblicken. Wer für sich den abrahamitischen Glauben gefunden hat und darin ausharrt, weiß sich im dialogischen Bund mit Gott und erlebt immer wieder neu die innere Ausgeglichenheit und Erfüllung, die Abraham auszeichnete. Er kann sich getrost die Gewßheit des Psalmisten zu eigen machen, der unserm Gott voll Dankbarkeit sagt: „Du leitest mich nach deinem Ratschluß und nimmst mich am Ende auf in Herrlichkeit“ (Ps 73,24).                                                     (H.-J. Rick,  02.04.2018, korr. 01.2020)


[1] Bibellexikon, hsg . Von H. Haag u.a., Einsiedeln 1968,  Sp- 556 ff.

[2] Zitiert nach M. Buber, Das Buch der Preisungen, Gerlingen 1992, S. 117.

[3] Ein katholischer Katechismus; hsg. Von Andreas Baur und Wilhelm Plöger, Essen 1978, S .22.

[4] Gemeint ist die dreigliedrige Losung des CRM  „Begegnen, bekennen, bewegen“.

[5] Gotteslob 392, 2.Str.

[6] Jerusalemer Bibel,  3. Aufl.  Freiburg 1985, Seite 1018.

[7] Regula Benedicti, Beuron o. J., 73,3.

[8] Im GL(1975) steht der Psalm unter Nur. 755; im GL (2013) finden sich die Verse 1-18 unter Nr. 657,2.

[9] Vesperale Nonastcum, hrsg, von den Mönchen der Abtei St, Joseph zu Gerleve, 1993 Gerleve, Seite 193 f.

[10] Erich Zenger,Stuttgarter Bibel, Stuttgart 2005, Seite 378 ff.

[11] Erich Zenger, Stuttgarter Psalter, Stuttgart 2005, S. 178 ff.